BILDHAUERIN

Sylvia Martin
in Katalog:
"Doris Kaiser – An allen Tagen"
Galerie Kunstforum Solothurn 2018

Sehen, was jedermann sehen kann, aber nicht sieht.

Paul Valéry, Cahiers, 1894 – 1945

Alles oder fast nur Linie – Zu den Zeichnungen und Skulpturen von Doris Kaiser

Sie schmeicheln dem Auge, ihre diskrete Präsenz fesselt die Aufmerksamkeit. Die skulpturalen wie auch zeichnerischen Arbeiten von Doris Kaiser besetzen in ihrer reduzierten hellen Materialität und linearen Klarheit einen transitorischen Raum, in dem eine Skulptur zum Bild, zur Architektur werden kann, in dem ein materiales Weiß zum Licht, zur Leere und Immaterialität neigt – einen Raum des Übergangs, in dem Kunst, Alltag und Natur sich begegnen und in dem Bewegung, Prozess und Dauer verfließen.

Das Einfache und Klare der Werke von Doris Kaiser trügt also. In nach-modernen Zeiten rufen sie ein ganzes Feld an kunst- und kulturhistorischen Verweisen auf. Dabei hat im aktuellen Medienpluralismus die Vorstellung davon, was eine Zeichnung ausmacht, die Fläche des Papiers längst hinter sich gelassen. So verkörpern auch die Papierarbeiten von Doris Kaiser, die seit 2006 entstehen, Vorstellungen und Bedingungen, die sich in ihren skulpturalen Werken spiegeln.
 

Die Vordergründigkeit der Farbe Weiß lässt an die experimentelle Abstraktion der Klassischen Moderne, an den Immaterialitätsanspruch eines Yves Klein und an viele andere Bestrebungen hin zum wie auch immer motivierten Nichts denken. Die glatten, mit wenig Tiefe ausgestatteten, zum Teil verspringenden oder sich wölbenden Gipsflächen wie auch das illusionistische Weiß des Papiers stehen in Relation zu dem sie umgebenden Raum, konkret zum Ausstellungsraum, zur weißen Zelle oder überhaupt zur Architekturgeschichte der weißen Wand.
Das Weiß bleibt bei Doris Kaiser dabei stets an das Material, an Papier, Gips und Ton, gebunden. Es überstrahlt die Form nicht, löst Konturen nicht auf – bleibt vielmehr unscheinbar präsent. Die Konzentration auf nur wenige Werkstoffe und ihr stetes Deklinieren betont das Substanzielle, Ursprüngliche und vielleicht auch einen impliziten symbolischen Gehalt: Denn der erdige Ton gilt als schöpferische Urmasse schlechthin, assoziiert mit Leben und Formwerdung; Gips hingegen wird als sein Gegenpol verstanden. Die ‚tote‘ mineralische Substanz dient dem Abguss und der Konservierung. Zahlreiche Gipssammlungen nach antiken Skulpturen sorgten im neunzehnten Jahrhundert für einen allgemeingültigen Bildungskanon und sind heute nahezu vergessen.

Doris Kaiser knüpft an solche klassischen Verfahren an, denn sie kommt dem Charakter der Materialen entgegen, wenn sie Gips gießt, Ton mit der Hand formt und auf Papier zeichnet. Sie arbeitet materialgerecht. Dabei setzt sie Hilfsmittel ein, die die Autorin von ihrem Werk distanzieren und einen konzeptuellen Zwischenraum schaffen. Bei den skulpturalen Arbeiten sind es Verschalungen und glatte Platten, mit denen die Künstlerin als formgebendes Rüstzeug arbeitet. Sie verleihen den Werken ihre Klarheit, lassen aber auch Eigenreaktionen des Materials während des Prozesses zu.
Dieses Verfahren der Übersetzung hat Doris Kaiser auch auf die Zeichnung übertragen und damit ihr konzeptuelles Anliegen nochmals betont. Die Konturen von Ästen, Blättern und anderen Fundstücken aus der Natur wie auch aus dem Alltagsleben geben den Verlauf der Linien vor. Immer wieder wird ein Ast, Stein oder Blatt intuitiv auf das Papier gelegt und der Umriss mit Bleistift oder farbigem Stift partiell nachgezogen. Es entstehen lineare Kräftefelder und Andeutungen von Formen. Zusätzliche Eingriffe mit Farbe setzen formale Akzente und verleihen den räumlichen Gespinsten weitere Dimensionen. Man meint, ein Gefäß zu erkennen, einen weiblichen Akt oder die Maserung eines Minerals.
Obwohl die Linie keine Handschriftlichkeit trägt, nichts über die Autorin verrät, keine Beschreibung der Wirklichkeit liefert, deutet sie in den Zeichnungen dennoch eine Erzählung an, öffnet, weit mehr als es bei den Skulpturen der Fall ist, ein assoziatives Feld. Die Formkraft der Natur, mit ihrem so konsequenten wie zufälligen Antrieb, steht als fernes Echo hinter diesen Zeichnungen.
Die klaren, scharfkantigen, teilweise aber auch sanft gewölbten Konturen geben die Liniensprache in den skulpturalen Arbeiten wie auch den raumgreifenden Installationen vor und berichten über dreidimensionale Konstruktionen, über Spannungen, fragile Zustände und räumliche Unschärfen. Mitunter betont auch hier ein farbiger Eingriff die lineare Grunddisposition der Arbeiten. Die Linie kann sogar zum tatsächlichen plastischen Element werden und eine realräumliche Verspannung bilden.

Was man auf dem Papier erwartet, eine individuelle Spur der Autorin, dem begegnet man vermeintlich bei einigen skulpturalen Werken. Eine dunkle, wie mit einem Pinsel trocken aufgetragen wirkende, gerade Linie durchzieht das Weiß des plastischen Körpers und lässt ihn gleich einer Zeichnung zur Fläche werden. Obwohl die charaktervolle Linienführung Individualität und Autorschaft verspricht, scheint hier das alltägliche Verfahren des Mit-der-Hand-Schreibens eher in eine spirituelle Praxis umgeschlagen zu sein, hinter deren meditative Gleichförmigkeit die Schreibende zurücktritt. Tatsächlich entstehen solche kalligraphisch anmutenden Linien aus dem skulpturalen Prozess heraus. Es handelt sich um die Spuren von eingeschlossenen materiellen Linien aus Ton, die teilweise geformt und teilweise mit dem Pinsel auf den Boden der Gussform aufgetragen wurden. Beim Entfernen der Form verbleiben Tonreste im Gipsmaterial und suggerieren diese spezielle Handschriftlichkeit zwischen meditativer und konstruktiver Praxis.
 

Immer wieder ist es die Linie, die die Betrachtung der Arbeiten von Doris Kaiser beherrscht, seien es Zeichnungen oder Skulpturen. Die Linie ist ein seit Jahrhunderten vertrautes Ausdrucksmittel. Sie kann Idee und Konzept sein, seismographisch über seelische Befindlichkeiten berichten oder eine Lebensvision wie im Jugendstil verkörpern. Im Werk von Doris Kaiser wird sie zum bestimmenden Instrument, mit Hilfe dessen der Betrachter sich des Werkes überhaupt erst vergewissern kann. Die Linie hält die Balance zwischen Präsenz und Auflösung. Sie steht für die Wahrnehmung als Erkenntnisinstrument, an ihr hält sich das Auge fest und an ihr entzündet sich ein weit gestecktes Bedeutungsfeld. So kann das Werk von Doris Kaiser auch so gelesen werden, dass es sich eigentlich fast nur aus der Linie heraus definiert – und zugleich auch alles andere ist.

  • 1Ausst. Kat. Gegen den Strich. Neue Formen der Zeichnung, hg. Markus Heinzelmann, Matthias Winzen, Staatliche Kunsthalle Baden-Baden in Kooperation mit dem Siemens Arts Program, Baden-Baden 2004.
  • 2Ausst. Kat. Nichts. Nothing, hg. v. Martina Weinhart, Max Hollein, Schirn Kunsthalle Frankfurt, Frankfurt am Main 2006.
  • 3Wolfgang Ullrich, Vom Klassizismus zum Fertighaus. Ein Lehrstück aus der Geschichte der Farbe Weiß, in: ders. und Juliane Vogel (Hg.), Weiß, Frankfurt am Main 2003,
    S. 214 – 230.
  • 4Hartmut Böhme, Kräfte und Formen in der Geo-Ästhetik, in: Ausst. Kat. Die Kräfte hinter den Formen, hg. v. Beate Ermacora, Helen Hirsch, Magdalena Holzhey, Galerie im Taxispalais, Innsbruck, Kunstmuseen Krefeld, Kunstmuseum Thun 2015 – 2016,
    S. 23 – 36.

PDF-DownloadText drucken